Merkur und Argus
Mythologische Sachen hat Rubens meistens wie seine Kirchentafeln im größten Maßstabe gehalten. Daneben gehen feine kleine Bilder von ungemeinem Reize her, auf den nähern Anblick berechnete Kabinettstücke von Zeichnung und Farbe, dergleichen er noch bis zu letzt gelegentlich eigenhändig gemalt hat, als er an jenen andern schon das Meiste den Gehilfen überließ. Ein gutes Beispiel dieser Art ist unser 1742 in Paris für die Dresdner Galerie erworbenes Bild, das wahrscheinlich mit dem Stück seines Nachlasses Nr. 118 identisch und jedenfalls -während seiner letzten fünf Lebensjahre entstanden ist. Die Komposition der Figuren ist anmutig und fließend, der Moment vollkommen klar. Argus, der die von Juno in eine prächtige weiße Kuh verwandelte Nebenbuhlerin so bewachen soll, ist entschlummert. In gespannter Aufmerksamkeit nimmt nun Merkur die einschläfernde Schalmei vom Munde und zieht vorsichtig das Schwert aus der Scheide, das ihn enthaupten wird. In den Wolken sieht man das Vogelgespann der Juno. Ähnliche Wolkenerscheinungen und eine Landschaftsbildung wie diesen lichten, sanften Waldabhang treffen wir noch auf einigen andern Bildern mit mythologischen Gegenständen. Unsre Überklugen von heute finden die Landschaften von Rubens nicht frisch genug und seine Figuren zu wenig lebendig. Aber eins werden sie ihm wohl lassen; daß die Art, wie er die Figuren in die Landschaft setzt, unübertroffen ist.
Aus dem Buch “Album der Dresdner Galerie” von 1904.